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Wie süß ist Rache wirklich?

Isreal


Es ist frisch, das Gras feucht und beschlagen.

Der Hochsommer verabschiedet sich, macht Platz für den abkühlenden Herbst.

Aber nur für einen kurzen Moment, denn später kehrt mit dem Summen der Automotoren auch wieder die Hitze zurück.


06.00 Uhr morgens

Ich ziehe mich aus, lege mich auf den Rücken, lasse mich treiben, tauche in das kühle Nass.

Meine Arme sind ausgebreitet, ich schwebe im Wasser. Weiße abstrakte Wolken ziehen schwerelos an mir vorbei.

Meine Arme holen aus, gleiten wie ihre Flügel durch die weiten der Lüfte.

Tausende flattern in eleganten Formationen über mich hinweg. Sie machen sich, wie ich damals, auf die Reise, um dem kalten Winter zu entfliehen.

Zugvögel. Der Vorbote des Herbstes, nun sind auch sie angekommen.

Das Thermometer und die aufgeheizten Gemüter, die nicht zur Ruhe kommen, klingen langsam wieder ab.

Aber nur für kurze Zeit, denn das Land kann nicht schweigen. Ob die Vögel das wussten?


Mir reicht es. Ich habe die Nase gestrichen voll. Israel ist vieles, aber vor allem ist es laut. Immer!

9.3 Millionen Menschen aus aller Herkunftsländer lieben, leben und arbeiten auf einer Fläche, die aus geografischer Sicht nicht größer als Niederösterreich ist.

Kannst du dir vorstellen was das heißt?


Jerusalem.

Wir leben in einem entzückenden Häuschen in den Bergen, nur wenige Kilometer von der quirligen Hauptstadt entfernt.

Meine Vorfreude auf dieses Wohnerlebnis war groß, bin ich doch am Puls der Zeit, wenn ich durch die geschichtsträchtige Altstadt flaniere.

Wahrscheinlich war ich in einem früheren Leben ein Muli, der die gepflasterten Wege auf allen vieren durchquerte und im Palmenwind so richtig Fahrt aufnahm.


Ich kann mich nicht bewegen.

Mein Geduldsfaden ist gerissen, hat sich in Luft aufgelöst.

Das schreit nach Rache!


Schmerz, Zorn und Wut – bittere Gefühle beherrschen mein entzündetes Nervensystem.

Über eine Schiebetüre gelange ich in unseren kleinen Garten, in welchem wir nur eine Steinmauer vom direkten Nachbarn getrennt sind.

Eine 10-köpfige Familie bewohnt das charmante Steinhaus, das sich über mehrere Etagen zieht.


Lock-down Nummer eins:


Die Polizei fährt Streife.

Wir können nicht weg.


Die 8. Stunde ist angebrochen und unsere Wände wackeln. Die Fensterscheiben vibrieren.

Die Rollläden, am helllichten Tag geschlossen, verwandeln das gemietete Haus in eine Gruft, aus der es kein Entfliehen gibt. Wir sind gefangen im eigenen Haus.

Wilde Fantasien, die jeden Strafregisterauszug für immer beschmutzen würden, beherrschen meine Gedanken.

Ich hasse sie.

Eine große Musikbox, das Symbol der Respektlosigkeit steht Tag und Nacht im Nachbargarten und schürt meinen Zorn.

4-mal pro Woche fühlen sich die Bewohner hinter der Steinmauer wie Rockstars und greifen zum krachenden Mikrofon.

Die Box bis zum Anschlag aufgedreht, ist in unsere Richtung gedreht, da sie die direkte Beschallung anscheinend nicht mögen.


Gal rennt zum Auto. Ich wünschte er holte mir eine Knarre, mit der ich mich erschießen kann.

Kilometerweit, so sagt er, höre man das Unterhaltsprogramm unserer Nachbaren. Jeden Tag aufs Neue.

Unser Vermieter, ein gebürtiger Deutscher, ist gleich machtlos wie wir. Zum X. mal ruft er die Polizei aber sie kommen nicht.

Unzählige Anzeigen wurden schon lange vor uns abgegeben. Nichts. Wir sind uns selbst überlassen.

„Nein, das tust du nicht!“, wachtelt Gal mir aufgebracht zu, als ich den Wasserhahn aufdrehe.

„Sie sind amtsbekannt!“, schreit er mir hysterisch zu, „die scheuen nicht vor Handgreiflichkeiten!“.


Tränen vor Empörung, Ohnmacht und Zorn laufen mir über die erhitzten Wangen. Ich kann nichts dagegen tun. Der Gartenschlauch fällt unverbrauchter Dinge wieder zu Boden.


Gal zerrt mich am Arm Richtung Haustüre. Bevor hier noch ein „Breaking News Massaker“ passiert, schleift er mich in unseren angrenzenden Wald.

Ich hatte vor kurzem eine Rücken OP, weswegen ich nicht laufen kann. Meine Beine schmerzen. Auf allen vieren krieche ich auf dem ausgetrockneten, dürren Waldboden entlang. Unsere Ohren summen von der musikalischen Vergewaltigung, die normalerweise die Herzen verbinden sollte.

Von Weitem hören wir die schiefen und krummen Töne unserer Nachbarn als wir uns erschöpft in der Waldlichtung niederlassen und für einen kurzen Moment überlegen, vielleicht doch noch eine ernst zu nehmende Drogenkarriere zu starten.

Denn, bei Sinnen das lass dir gesagt sein, ist das geheule kaum zu ertragen.


3 Monate und 83 Outdoor Musik-Veranstaltungen später:


Samstagvormittag. Shabbat. Es herrscht „siesta“ in den religiösen Haushalten.

Heute ist ihr Ruhetag. Kein Strom, kein Feuer, nichts. Nur Gott und das Warten darauf, bis die Sonne wieder untergeht.


Der Tag der Abrechnung!

„Rachesüchtig“, wie ich heute nun mal bin, greife ich mir unsere 10 mal 10 cm kleine Camping-Musikbox. Sie ist ein Witz zum Equipment der Nachbarn, aber sie tut ihren Dienst. Behutsam stelle ist sie auf die Äste unseres Eukalyptus Baumes, der als Schattenspender im Garten Wurzeln schlägt.


Ich gebe alles und schalte ein.

Laute Mucke dröhnt aus meiner Minibox.

Jetzt drehe ich noch lauter. Die Stille weicht der wild aufschreienden E-Gitarre und dem schiefen Geplärre der Band.

Die hysterischen Rufe meiner Nachbarn motivieren mich zu mehr. Es entsteht ein Mischmasch aus empörtem Geschrei und dem Sound von AC/DC. Auch ich nehme mir kein Blatt vor den Mund und lasse mich gehen.

Ich gröle wie eine Wilde im Takt. Ich kann mir nicht helfen, aber Rache ist süß!

Es ist so laut, dass ich ihr Fluchen nicht mehr höre.

Ich brülle zu den ohrenbetäubenden Klängen, spiele trotz lähmender Rückenschmerzen die Luftgitarre, verziehe mein Gesicht zu lustigen Grimassen und springe grölend auf und ab. „Highway to hell - eat this!!!”


Kurz höre ich ihre wüsten Beschimpfungen, sehe wie sie an den Ästen unseres Baumes reisen. Leere Dosen fallen auf unsere Seite der Hausmauer.

Wer jetzt glaubt, dass unsere Nachbarn verstanden haben, was ich ihnen damit sagen wollte, der irrt.

Ihre Open-Air-Konzerte führten sie fort und nebenbei flattern mir jetzt auch noch Drohungen ins Haus. Von den Nachbarn, deren Freunden und wiederum deren Freunden. Die einzige Konsequenz, die sich daraus für uns ergab, war umzuziehen.


"Man soll sich keinen Hof kaufen, sondern gute Nachbarn“ ( Zitat-unbekannt)


2. Lock down

Negev Wüste


Das Einzige was mich an diesem Haus interessiert sind die Nachbarn. Alles andere ist kaschierbar.

Ein einziges Haus streift unseren Garten. Für israelische Verhältnisse - du erinnerst dich? Platzmangel an jeder Ecke - ist das äußerst luxuriös.

Das Haus zu groß, die Miete zu teuer, aber das ist alles egal solange wir nicht mehr länger Gefangene im eigenen Heim sind.


Ich lege mich auf die Lauer. Ich will den Nachbarn sehen, mit ihm reden, bevor wir unseren Allerwertesten wieder in die staubige Wüste platzieren.

Ich treffe ihn.

Direkt frage ich ihn nach Musik der umliegenden Häuser und auch nach seinen womöglich “kranken“ Gewohnheiten. Da die Not aus mir sprach blieb kein Platz mehr für Höflichkeiten.


„Karaoke. Ja, die gibt‘s hier.“, sagt er gelangweilt. „Wo auch nicht???“.

„Drei Häuser weiter“, deutet er müde als er an seiner verdächtig breiten selbstgedrehten zieht. „2-mal pro Woche. Am Abend meistens ...“

„Ein paar Häuser weiter also“, beratschlagen uns Gal und ich. „Das ist schon besser als die anderen 30 Häuser, die wir besichtigten. Das geht ...“

Wir ziehen um.

Schon wieder.

Genau heute vor einem Jahr bei 43 Grad Außentemperatur und immer noch einem labilen Rücken.

Jerusalem und seine Schönheit liegen nun hinter uns.


War es die Sprache? Das Verständnis das fehlte??

Der Hölle des Lärms sind wir bis heute nicht entkommen.

Unser Nachbar mag kein Karaoke, was er aber mag ist das: Im Einklang mit der Natur zu stehen.

So nennt er es, wenn er 4-mal pro Woche über Stunden in seinem ausgetrockneten Garten sitzt und sich gehen lässt. Entspannung vom stressigen Alltag.

Neigt sich der Tag dem Ende zu ist es vorbei mit der trügerischen Wüstenstille und unsere Rollos gehen wieder runter.


Trance, Techno, Rocky Beets schallen stundenlang durch unser nicht isoliertes Haus.

Manchmal, wenn sich unser werter Herr Nachbar melancholisch fühlt, klingen klassische Töne wie zB Beethoven oder Mozart durch unsere aufgeweichten Ohropax.

In solchen Momenten bekomme ich ganz besonders Heimweh und sehne mich nach der Stille der Alpen.


Mantra für diese Tage: „Ohmmm!!!! ich bin ein Bergsee.“


Auch hier haben alle Versuche friedlich eine Lösung zu finden fehlgeschlagen.

Er ließe sich seine Privatsphäre nicht nehmen, hat aber kein Problem damit unsere zu boykottieren. Ja, so ist das nun mal im wilden Westen, pardon Osten.


Meine Arbeitskollegin im Kindergarten wohnt am Ende der Siedlung. Sie und ihre Familie haben das gleiche Problem mit den Nachbarn. Ihre Freundin lebt ein Dorf weiter und sie erzählt dasselbe u.s.w


06.00 Uhr morgens.

Ich floate wieder, inhaliere die Zeit wo es still um mich ist.

Ich genieße die Kühle, schau in den Himmel und fühl mich wie sie... Sie sind gekommen, um nicht zu bleiben.

...Und wir wahrscheinlich auch nicht...

Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes mal erzählt werden.


PS:


Magst du deinen Nachbarn? Dann lass es ihn doch wissen.

Respekt und gute Nachbarschaft ist unbezahlbar!


PPS:

"An Zorn festhalten ist wie Gift trinken und zu erwarten, dass der andere stirbt“- Konfuzius.


Dieser Satz ziert unsere Terrasse. Ich nehme ihn mir zu Herzen, habe meine AC/DC Hochglanzzeiten hinter mir.

Aber ganz lassen kann ich es freilich immer noch nicht. Beendet er seine Show, kommt meine!

Jetzt schallt ein lautes Halleluja aus meiner Box, denn auch wenn er sein Verhalten nicht verändern wird, so will doch wenigsten ein Statement setzen!







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