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"Sanft ist unser Kampf"

Israel heute


Nervös sitze ich in der Küche und starre auf die Uhr an der Wand.


Noch 10 Minuten:

Von Anbeginn der Zeit hatten wir Schwierigkeiten miteinander.

Die Kluft zwischen uns scheint unüberwindbar zu sein. Die Jahre machten dies nicht besser.


Noch 8 Minuten:

Romantische, liebreizende Bilder, tief verankert in meinem Kopf, bis das Wahre, ungeschminkte Gesicht ans Tageslicht kam.

Nie werde ich den ersten Tag vergessen, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind.

Noch 5 Minuten:

Meine Oma pflegte zu sagen: Aufgewärmt ist nur das Gulasch gut.

1 Minute später:

Mein Handy blinkt.

„Sie haben eine neue Nachricht“.

Stockend öffne ich meinen Mail Account. Was zum Teufel?!?

Dear Birgit,

Es tut uns sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Kurs „Hebräisch für Anfänger“, der heute um 08.30 Uhr beginnen sollte, ausfällt. Falls sich noch weitere Studenten anmelden, werden wir Sie informieren und nächste Woche mit dem Studium beginnen.

Mit freundlichen Grüßen.

„NNNEEEEIIINNNNNN!!!!!!!!!

Nicht schon wieder. Ihr!!!“

Drei Minuten vor Kursbeginn, typisch! Das sieht ihnen wieder mal ähnlich! Fühl mich wie auf einer Geburtstagsparty, zu der außer mir niemand kommt!


Startklar sitze ich vor meinem Computer.

Bücher liegen aufgestapelt neben mir.

Wimperntusche und BH kamen nach Wochen der Vergessenheit wieder zum Einsatz und nun das.

Unvollendeter Dinge rufe ich Gal an. Der kommentiert das Ganze so: „OHHH Babe, wirklich? Du hast einen BH an? Welchen?“

Ich seh schon, das wird nichts mehr. Aber dieses Mal ist es nicht meine Schuld. Ich hätte alles gegeben!!!

Der Traum der Auslandskorrespondentin rückte in greifbare Nähe ... Und jetzt das! Ein weiterer herber Rückschlag in meiner imaginären Karriere!


Da ich Gals Aufmerksamkeit an BH und Wimperntusche verloren habe, rufe ich meine Auswanderer Freundin Judith an.

„Abgesagt, verschoben“, trällere ich aufgebracht in den Hörer. „Schon wieder! Judith, ich sags dir, wenn das so weiter geht, dann mach in noch mein Doktorrat in Kita Alef. Ich komm über die Anfänger Klasse nicht hinaus. Ich bleib ein ewiges Seepferdchen!“


Mein vierter Anlauf. Verschoben! Es läuft nicht rund.


Warum fällt es mir so schwer, diese Sprache zu lernen?

Dafür gibt es nur eine plausible Erklärung: Wenn ich dem aufgeweckten Dialog zweier Israelis lausche, dann vergesse ich glatt, dass ich im Ausland bin.

Das „KK“ und „CH“ überwiegen in ihrer Aussprache, ähnlich wie bei uns Tirolern. Da schalt ich ganz automatisch auf Autopilot und projiziere mich in die Südsee, wo ich freudig im lauwarmen Wasser plansche und süße Cocktails schlürfe.

Diese überlebenswichtige Fähigkeit hab ich mir jahrelang hart antrainiert und ist eben so spontan jetzt nicht mehr raus zu kriegen.


Und trotzdem.

Ich bin im Land der Einwanderer, dem Land aller Nationen.

Der Druck, der auf meinen österreichischen Schultern lastet, ist enorm. Ich muss jetzt alles geben!


Somit versuchte ich erneut, meinem Leben ein wenig mehr, naja sagen wir, Intellekt einzuhauchen, denn ich will hoch hinaus - meine Ziele sind gesteckt.

Früher oder später, das verspreche ich dir, werde ich Bücher – oder zumindest den Ikea-Katalog - in hebräischer Schrift lesen. Wahrscheinlich eher später, denn das weiß ich jetzt auch: „Auszuwandern ist ein bisschen schwer, die Sprache zu lernen aber um so mehr“.

Sanft ist unser Kampf:

Erster Anlauf:

Flasche Einstufung!

Zu meiner Freude übersprang ich zum ersten Mal in meinen Leben eine Klasse. Das stellte sich aber schnell als Fehler heraus.

Zweiter Anlauf:

Gemeinsam drückten Judith und ich die Schulbank im Herzen Jerusalems, bis Corona kam. Ab da verdrückten wir uns wieder nach Hause.


Dritter Anlauf:

Privatunterricht mit der pensionierten Lehrerin Mina in einer öffentlichen Kibbutz Bücherei.


Im Pensionisten-Tempo lernte ich das A, B, C.


Bemüht spricht einer ihrer Kunden in gebrochenem Deutsch mit mir, während die Hobby Bibliothekarin Mina Bücher chronologisiert.

Aufrichtig entschuldigt er sich für seine schlechte Aussprache. Auf seinen Gehstock gebückt, sagt er mir schwer atmend, dass es schon sehr, sehr lange her sei, seit er das letzte Mal deutsch gesprochen hat.


Ich: „Aber nein! Sie sprechen wunderbar Deutsch.“ (Lüge)

Er: „Aber nicht gern.“


Ich: „Warum nicht?“


Er: „Schlechte Erinnerungen.“


Ich: „Verstehe.“


Beklemmendes Schweigen.


Ich: „Die Aussprache ist auch scheußlich!!“


Stirnrunzeld stützt er sich müde an der Theke ab.

Ich: „Wo haben sie meine Sprache gelernt?“


Er: „In Polen.“

Ich: „Sie waren in Polen?“


Er: „Ja, das war ich – damals.“

Erneutes Schweigen.


Ich: „Dort redet man aber nicht Deutsch?!“

Er: „Da wo ich war, schon.



"Hier bitte schön“, ruft Mina, die im selben Augenblick mit seiner gewünschten Lektüre zwischen den vollgestellten und staubigen Regalen hervorkommt.


Angestrengt versuche ich die vor mir liegenden Hieroglyphen zu entziffern.

„Mein Österreich" ( אוסטריה שלי) , lese ich stotternd auf dem Cover, als das Buch über die Theke wandert.

Beide nicken schweigend.

Langsam verstaut er das Sachbuch in seinem kariert gemusterten Einkaufstrolley. Fassungslos und mit weit offenstehendem Mund starre ich ihn an.


"Danke schön“, antwortet er freundlich. „Ich bin schon sehr gespannt auf dieses Buch, immerhin kenne ich Österreich ja nur von der Durchreise“.




Monate später sollte ich diesen speziellen Humor bei meiner sozialpädagogischen Arbeit mit Holocaust Überlebenden, (die allesamt ihre Türen weit für mich öffneten) noch öfter kennenlernen.


Bis 2017 unternahm der alte Mann mit dem Gehstock noch Reisen nach Polen, um als Zeitzeuge aus dem Leben im KZ zu berichten.

Unter anderem eignete er sich neben Deutsch auch noch die polnische Sprache im Lager an. Insgesamt sprach er bis zu seinem Lebensende 5 Sprachen fließend.

Wir liefen uns noch öfter über den Weg und konnten über unseren ersten Dialog (der in gekürzter Version gedruckt ist) gemeinsam lachen.

Der sympathische, vierfach Opa, der mich zutiefst inspirierte, lehrte mich vieles aber vor allem lehrte er mich das:

Intellekt ist Leben und lang her, ist nicht länger her als- gestern.

Ob ich heute hebräisch spreche?

Mein Mann sagt, Nein, ich sage, ein bisschen. Aber noch ist nicht aller Tage Abend und im Herbst starte ich erneut einen Kita Alef+ (erste Klasse).


Erkenntnis des Moments: Auch ein lernfaules Seepferdchen, wie ich es bin, sollte auf alles vorbereitet sein, studieren und sich nicht nur im seichten Wasser treiben lassen.

Denn, Besitz kann dir genommen werden, Wissen nicht.








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