top of page

Alarm!


Israel

Plötzlich stürzt sich Gal wie wild auf mich.

Uhhh, denk ich mir, was ist den jetzt los? So energisch ist er sonst nie.

Eingequetscht liege ich auf der viel zu kurzen Couch, unserer Freunde.

Passiert das gerade wirklich?

Ich habe vorher ordentlich Wein gekippt und hinterfrage kurzfristig meinen jetzigen Geistes Zustand.


Poka und Fuad, die gleich nebenan wohnen, springen aus ihren Wohnzimmerstühlen auf und eilen in das Kinderzimmer, wo ihre beiden Söhne schlafen. Es ist kurz nach Mitteracht.

Schützend beugen sie sich im abgedunkelten Raum über die kleinen Kinderbetten. Benommen beobachte ich sie durch den offenen Spalt der angelehnten Türe.

Ihr erstgeborener Sohn feierte vor kurzem seinen 4. Geburtstag, weshalb ein Mini Mouse Ballon schwerelos im Raum schwebt.

Mit weit geöffneten Augen starre ich auf das Disney Gesicht mit der roten Schleife, während mir Gal lautstark ins Ohr pustet.

Alarm Nummer 2:

So furchtbar anders als daheim, brennt jetzt kein Heustadel lichterloh.

Auch hat sich keine Mietze in der Baumkrone verfangen und es eilt auch nicht die Freiwillige Feuerwehr zu ihren Übungseinsätzen, wo die tapferen Männer außer ihren unsagbaren Durst,meist recht wenig löschen.

Nein, hier höre ich ...

Alarm Nummer 3:

Uns bleiben 15 Sekunden um uns in Sicherheit zu bringen.

Wir haben keinen Punker, wo es jetzt bombensicher wäre.

Weder hier noch bei uns zu Hause.

Daher bleibt uns nicht mehr als die Horizontale auf der grünen Couch ...


Was mir durch den Kopf schießt:

1)15 sec. sind unter anderem eben nicht nur beim Skirennen lang.


2) Ob meine Auslandsversicherung auch psychische Schäden abdeckt?

3) Was nehme ich mit? Gar nichts, weil ich ja beim Nachbarn bin ...


Es knallt.

Die Erde bebt.

Mini Micki schwebt über mir.

Stille.

Ich höre nichts.


Nachbeben.

Die Küchenuhr tickt.



Es knallt wieder.

Ich zucke.

Die Erde unter mir bebt erneut.

Die Spüle tropft.


Stille.


An meinem Ohr höre ich Gals Atem.

Wie schwer er schnauft?

Ist er etwa eingeschlafen?

Bekommt er überhaupt mit, was hier gerade los ist?

Wir befinden wir uns im Krieg und er schnarcht?


18 Sekunden später


Bomben.

Sie schlagen ein.

Aber nicht hier.

Und auch sonst nirgendwo im Land.

Heute fürchten sie im Gaza.

Dort, gleich nebenan, nur einen Katzensprung von uns entfernt, findet in dieser Nacht keiner mehr Schlaf.

Wir hier auf der anderen Seite der Mauer kommen mit dem Schrecken davon.

Sie nicht.



Drei Atemzüge später

Ich fühle mich als Survivor und fluche wie ein Rohrspatz von den Dächern.

„Ja, wissen die denn nicht, dass wir hier zur Stelle sind?“ „Hier knallt‘s ja wirklich!“, schreie ich entsetzt in die Runde, die sich nun wieder im Wohnzimmer eingefunden hat.


Mit einer sanften Handbewegung gibt mir Poka ein Zeichen, dass ich meine Stimme zügeln solle, da die Kinder ja schlafen würden.

„Bitte nur flüstern“, sagt sie mit dem Zeigefinger vorm Mund, „sonst werden die Wonneproppen noch wach.


Ich glaub, mich beißt ein Elch!! Hier heulen die Sirenen und ich soll leise sein?

Die verarscht mich jetzt doch, oder?

Entsetzt blicke ich zu Gal, der seelenruhig mit den schulten zuckt.


„Der Blödsinn muss sofort aufhören“, rufe ich erneut mit bebender Stimme.

„Das ist ja Lebens gefährlich hier! Ich meine, ich bin Europäerin! Wisst ihr eigentlich, was das heißt?“


Ohne eine Antwort abzuwarten fahre ich fort.


„Wir lesen darüber, unterstützen mit aufrichtiger Anteilnahme (mal mehr, mal weniger) aber wir sind nicht live dabei!

Das kann man mit uns nicht machen! Weiß die Menschheit eigentlich, was da los ist?“ frage entrüstet weiter, während ich

meine Hände fest in die Hüfte stemme.


„Leute! Wir müssen Meldung machen, zack, zack,“ sag ich aufgebracht.

„Die Welt muss augenblicklich über dieses Geschehen informiert werden!“


Wortlos schauen mich sechs Augen an. Fuad entwischt ein Schmunzeln.


Langsam dämmert es mir.

Die Welt weiß ganz genau, was hier los ist.

Wir wissen es so genau, dass wir höchstens: genau gleich gut schlafen.

„Den Schmarrn“ haben wir schon zu oft gehört.


Trotzdem: Politik hin oder her, jetzt bin ich da.

Genau die Sorte Europäerin, die dem Nahen Osten noch gefehlt hat und das ist inakzeptabel!

Wenn das unser Kanzler wüsste?!?

Entsetzt lass ich mich auf das Sofa fallen.


Der Kühlschrank geht auf und Fuad holt sich ein großes Stück Kuchen, während Gal frischen Kaffee kocht.

(Ganz egal wo die Uhrzeiger stehen, für ein Heißgetränk und Süsses ist es ihnen nie zu spät).


Nichts? Kein Kommentar- von niemanden.


Das ist aber schon gerade passiert, oder??

Ich zweifle erneut an meinem Verstand. Erwartungsvoll schaue ich zu Poka, die sich seelenruhig wieder hinsetzt.

Müde lächelt sie mir zu, während sie zur Fernbedingung greift und weiter Sockenpaare aus dem Wäschekorb sortiert.


Das glauben sie mir zuhause nie und nimma!


Vor meinem Geistigen Auge sehe ich mich vor laufenden Kameras ein Breaking News Interview geben, wo ich als Heldin der Stunde (die zugegeben zur richtigen Zeit am richtigen Ort war) von der lebensgefährlichen Front berichte.

Ich als Zeitzeugin! Wer hätte das gedacht?

Kurz streift mich der Gedanke, doch noch eine TV-Karriere anzustreben. Jetzt, wo ich schon mal da bin ...

Das Wort Coolness - wenn ich den dreien hier so zuschaue - bekommt eine völlig neue Bedeutung für mich.

Als ob nie was gewesen wäre. Den Israelis ist die Wurscht noch wurscht!


…das Leben geht weiter, das nehmen die ganz wörtlich.

Kurz darauf:

Gal nimmt mich in den Arm und küsst mich liebevoll, nachdem er mein Weinglas zum dritten Mal nachfüllt.

Genau das, was ich jetzt brauche.

Liebe, Melissen Geist und literweise österreichische Notfall Medizin.


Für heute, dass sag ich dir ganz ehrlich, sind die Helden müde und die weißen Tauben?

Ja, die fliegen hier schon lange nicht mehr ...




THE END








Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Haben Sie Kinder?

bottom of page